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Allgemeine Präventionsleitlinien

Beteiligungsorientierung – Die Menschen mitnehmen

Präventionsketten lassen sich nicht administrativ verordnen.

Sie entstehen und funktionieren in einer staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft mit ausgeprägt zivilgesellschaftlicher Komponente. Wer lebensweltnahe Hilfs- und Förderangebote bereitstellen will, muss diejenigen beteiligen, um die es geht: Kommunalverwaltung und andere Träger bzw. Organisationen der Zivilgesellschaft, die Einrichtungsebene (z.B. Kitas und Schulen) sowie Kinder und Familien als Adressat*innen.

Findet Beteiligung auf diesen drei Ebenen statt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass passgenaue und abgestimmte Angebote zustande kommen – Angebote, die benötigt werden und die Menschen erreichen, die sie erreichen wollen und sollen.

Eltern stärken – Kinder stärken

Präventionsketten sollen das gelingende Aufwachsen von Kindern in ihren Familien unterstützen. Der Aufbau von Präventionskettensetzt Vertrauen in die Bereitschaft der Eltern voraus, sich vorrangig am kindlichen Wohlergehen zu orientieren, wie immer sie dieses subjektiv interpretieren mögen. Prävention knüpft an die Ressourcen und Fähigkeiten von Eltern an, die sie benötigen, um ihrer Erziehungsaufgabe nachzukommen. Man geht im Fachkräftehandeln von einer vorhandenen Handlungsbefähigung aus und unterstützt die Eltern dabei, die Reichweite eben dieser Handlungsbefähigung zu erhöhen. Der Fokus liegt also darauf, Stärken zu stärken.

In der Präventionskette sind nicht nur institutionelle Maßnahmen und Angebote sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Vielmehr ist auch der für Kinder alltägliche Wechsel zwischen Familie und pädagogisch gestalteten Umgebungen in der Kita oder Schule zu beachten. Ohne eine aktive Zusammenarbeit mit Eltern kann es für Kinder zunehmend schwierig werden, in der Einrichtung vermittelte Orientierungen mit den familialen Werten und denen ihres privaten Umfelds in Einklang zu bringen. Umgekehrt kann die Wirksamkeit des pädagogischen Handelns in den Einrichtungen enorm steigen, wenn das Elternhaus diese Orientierung teilt und unterstützt.

Eltern sind für das gelingende Aufwachsen ihrer Kinder die weitaus wichtigste Instanz. Ihre nachhaltige Stärkung und Unterstützung ist der ein zentraler Ansatz präventiven Handelns. Dabei geht es primär darum, was Institutionen wie Kita und Schule für die Eltern tun können, nicht umgekehrt.

Von der Schwangerenberatung über die Unterstützung in der Geburtsklinik oder von (Familien-)Hebammen, Babytreffs und Elterncafés bis hin zu Erziehungsberatungsstellen und den „Hilfen zur Erziehung“ muss ein lückenloses Netz elternstärkender Maßnahmen geschaffen werden. Die hauptamtliche Koordination muss dafür Sorge tragen, dass die Frage, ob und inwiefern diese Angebote die besonders fokussierten Adressat*innen auch erreichen, im Rahmen der Gesamtstrategie beantwortet wird.

Aufsuchender Ansatz – Die Angebote zu den Menschen bringen

„Von der Komm- zur Gehstruktur“ ist eine in der Sozialen Arbeit viel verwendete Leitformel. Gemeint ist damit, dass Hilfs- und Förderangebote eher in Anspruch genommen werden, wenn sie in einem Rahmen angeboten werden, der Kindern und Eltern vertraut ist: Das Wohnquartier, die Kita, das Familienzentrum, die Schule oder auch die kinderärztliche Praxis. Die Vertrautheit des Ortes, wie auch die persönliche Bekanntschaft mit den Fachkräften, lässt vor allem jene Eltern, die Institutionen eher reserviert oder angstbesetzt gegenüberstehen, für die Inanspruchnahme präventiver Angebote aufgeschlossener werden.
In zweierlei Hinsicht muss eine funktionierende Präventionskette aufsuchende Ansätze berücksichtigen:

  • Clearing- und Lotsenfunktion:

Die vertrauten Bezugspersonen und Fachkräfte in den Regeleinrichtungen vermitteln Förder- und Unterstützungsangebote, die anderswo durchgeführt werden. So kann die Schule etwa an Einrichtungen der Volkshochschule oder an Erziehungsberatungsstellen weitervermitteln. Die Vermittlungsleistung dient dem Bekanntmachen des jeweiligen Angebots ebenso, wie dem Abbau von Hemmschwellen bei der Inanspruchnahme – ganz einfach, weil Eltern die vermittelnden Fachkräfte kennen und ihrem Rat vertrauen.

  • Platzierung des Angebots in der Regeleinrichtung: 

In dieser Variante findet das „Fremdangebot“ in der vertrauten Einrichtung selbst statt, z.B. eine Sprechstunde der Erziehungsberatungsstelle im Familienzentrum. Dabei gibt es noch viele Möglichkeiten, etwa im Kontext des offenen Ganztags an Grundschulen.

Beide Ansätze müssen bei der Ausgestaltung von Präventionsketten berücksichtigt werden. Diese Verankerung von aufsuchend-präventiven Maßnahmen in der institutionellen Regelpraxis sollte schon aufgrund der erforderlichen Zeit- und Personalressourcen eher als mittel- bis langfristiger Umbauprozess der Einrichtungen im Sinne einer Organisationsentwicklung verstanden werden. Dies betrifft zum Beispiel die multiprofessionelle Zusammenarbeit von speziell präventiv tätigem Fachpersonal (z.B. Kita- oder Schulsozialarbeit) mit dem Kernpersonal der Einrichtung (z.B. Erzieher*innen und Lehrkräften). Prävention sollte dabei als gemeinsam zu leistende Querschnittsaufgabe in der Grundversorgung verstanden werden, die nicht an speziell dafür eingestelltes pädagogisches Personal delegiert wird.

Kommunen, die aufsuchende und bedarfsgerechte Ansätze systematisch planen und einsetzen, erreichen damit auch vermeintlich „institutionsferne“ Familien, Communities und Sozialmilieus. Gelingt es z.B. im Gesundheitssystem, auch Angebote aus der Kinder- und Jugendhilfe zu vermitteln, kann dadurch die Zugangssteuerung zu deren Hilfs- und Förderangeboten erheblich verbessert werden.

Das Leitmotiv 'Ungleiches ungleich behandeln – Von der Gießkanne zur passgenauen Unterstützung 

Wer Prävention im Rahmen öffentlicher Daseinsvorsorge stärken will, muss als Erstes lernen, dass es „die“ Kinder gar nicht gibt. In modernen Gesellschaften sorgen die soziale Herkunft, das Wohnquartier, der Bildungsstand der Eltern, deren (Nicht-)Integration in den Arbeitsmarkt, die spezifische Zuwanderungsgeschichte sowie eine Reihe weiterer Einflussfaktoren für „ungleiche Kindheiten“ (Betz 2008). Diese ungleichen Lebenslagen lassen die „Normalbiografie“ als eine für alle Bevölkerungsgruppen bindende gesellschaftliche Norm zerfallen. Erforderlich wird somit eine sozial- milieu- und armutssensible Ausgestaltung von Präventionsketten, ebenso wie eine hohe diversitätsbewusste Kompetenz der Fachkräfte.

Müssen in ungleichen Lebenslagen aufwachsende Kinder daher auch institutionell eine ungleiche Förderung und Unterstützung erhalten? Provokant ist diese Frage, weil sie scheinbar den für moderne westliche Gesellschaften prägenden Gleichheitsgrundsatz verletzt.

Tatsächlich wird dieser Grundsatz aber bereits durch die ungleichen Startchancen ins Leben verletzt, die etwa in Armut aufwachsende Kinder massiv benachteiligen. Es ist im Sinne eines Nachteilsausgleichs nur konsequent, diese Kinder intensiver und anders zu fördern als vergleichsweise unbelastete Gleichaltrige. Das kann etwa über bessere Personalschlüssel für Kitas oder Schulen mit vermehrt sozial benachteiligter Klientel erfolgen.

Das Leitmotiv „Ungleiches ungleich behandeln“ orientiert also dahin, Menschen und Einrichtungen je nach biografischer Ausgangs- und Lebenslage passgenau zu fördern, anstatt per Gießkannenprinzip allen die gleichen Förderressourcen zukommen zu lassen. Dies ist diversitätssensibles Handeln auf der Ebene der sozialräumlichen Planung und Gestaltung.

Soziale Inklusion – Institutionen „kindfähig“ machen 

Eine ungleiche Förderung auf der Basis pauschaler Zuschreibungen wie „Brennpunktquartier“ oder „bildungsfernes Sozialmilieu“ führt für sich genommen noch nicht zu passgenauen Angeboten. Da benachteiligte Stadtteile in sich selbst ungleich strukturiert sind, ist sozialinklusives Handeln vielmehr auch auf Einrichtungsebene von Bedeutung.

So mag es in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander eine städtische Kita geben, die überwiegend von
in benachteiligenden Lebenslagen aufwachsenden Kindern besucht wird, und daneben die Einrichtung einer Elterninitiative, die selbst in diesem Sozialraum noch einen unterdurchschnittlichen Anteil benachteiligter Kinder aufweist. Das Schlagwort „Bildungsferne“ brandmarkt ganze Bevölkerungsgruppen als defizitär, ohne zugleich die mangelnde (z.B. diversitätsbewusste) Kompetenz von Bildungseinrichtungen zu thematisieren, durch die entsprechende Bevölkerungsgruppen ferngehalten werden.

Aus Sicht der Gestaltung kommunaler Präventionsketten folgt aus dem Ansatz der „institutionellen Diskriminierung“ (Gomolla/Radtke 2002), dass man Menschen nicht einseitig fit für die Institutionen machen kann (Stichwort: „schulfähiges Kind“). Vielmehr bedarf es eines grundlegenden Perspektivwechsels, sodass Institutionen wie die Kita oder Schule kindgerecht gestaltet und für Ungleichheit sensibilisiert werden. Diese Orientierung wird im Fachdiskurs als „soziale Inklusion“ bezeichnet. Eng verbunden ist damit das Gestaltungsziel, Kinder unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen (Lern-)Ausgangslagen möglichst lange gemeinsam zu fördern, anstatt sie aufgrund von Beeinträchtigungen oder eines diagnostizierten Kompetenzdefizits in spezialisierten Sondereinrichtungen zu platzieren.

(Bildungs-)Übergänge fließend gestalten

Heute noch Kindergartenkind, morgen schon Schulkind – das Denken in Stichtagen prägt das Bildungssystem insbesondere bei den institutionellen Übergängen noch immer in hohem Maße. Gerade benachteiligte und verletzliche Kinder drohen an diesen (bildungs-)biografischen Schnittstellen den Anschluss zu verlieren.

Übergänge sollten daher fließend gestaltet werden. Was im Kita-Bereich als Eingewöhnungsmodell bewährte Praxis ist, muss auch im Übergang in die Grundschule, in die weiterführende Schule und von der Schule in die Ausbildung bzw. das Studium gestaltet werden. Kinder und Jugendliche müssen in die neue Welt hinein begleitet werden, was auf verschiedene Weise erfolgen kann.

Beispiele sind Schnuppertage von Kita-Kindern in der Grundschule, Patenmodelle zwischen den Neuen und Schulkindern höherer Klassenstufen oder auch eine intensive Zusammenarbeit der Lehr- und Fachkräfte mit Eltern, vor allem für jüngere Kinder. Jugendliche werden in Nordrhein-Westfalen bereits heute durch Potenzialanalysen, Berufsfelderkundungstage und Betriebspraktika sowie andere Maßnahmen im Rahmen des Übergangssystems „Kein Abschluss ohne Anschluss“ an die Ausbildung, das Studium und den Beruf herangeführt. Auch freiwilliges Engagement, wie im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes oder des Freiwilligen Sozialen Jahres, kann Jugendliche auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden unterstützen und ihren Horizont erweitern, ebenso wie der Internationale Schüler*innenaustausch oder der Europäische Freiwilligendienst. Wichtig ist, dass auch Jugendliche mit Übergangsschwierigkeiten solche Angebote verstärkt annehmen. Ein systematisches und verbindliches – über die verschiedenen biografischen Phasen und institutionellen Übergänge hinweg geltendes – Übergangsmanagement aufzubauen, ist eine der Herausforderungen beim Auf- und Ausbau kommunaler Präventionsketten.

Multiprofessionelle Zusammenarbeit – von den Adressat*innen her gedacht

Die Umsetzung der bislang genannten Präventionsleitlinien macht in ihrer Kombination die Qualität einer Präventionskette aus. Sie alle aber teilen als grundlegende Voraussetzung die inhaltlich-konzeptionelle Zusammenarbeit der Fachkräfte aus den unterschiedlichen, an der Präventionskette beteiligten Organisationen, Ämtern, Einrichtungen und Institutionen im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft. Die konkrete Zusammenarbeit gestaltet sich in der Praxis oftmals herausfordernd, da man verschiedene Fachsprachen benutzt, unterschiedliche Organisationskulturen pflegt und verschiedenen institutionellen Aufträgen nachkommt. Umso wichtiger ist es, gemeinsam „vom Kind her zu denken“, da die unterschiedlichen Maßnahmen, Angebote und Interventionen in dessen Lebenswelt wieder zusammenfließen.

Häufig ist die Zusammenarbeit der Fachkräfte rein additiver Natur. Zwar werden die unbedingt nötigen Schnittstellen optimiert, aber die verbindliche, direkte Kommunikation zwischen den Professionen, Einrichtungen und Fachdiensten wird oft als mühsam beschrieben. Bei dieser Präventionsleitlinie geht es daher um das integrative, am Kind orientierte Zusammenwirken der Fachkräfte – nicht nur auf der Steuerungs- und Planungsebene, sondern auch zwischen den direkt mit den Adressat*innen arbeitenden Einrichtungen. Erst durch diesen gemeinsamen Blick auf die gesamte Lebenswirklichkeit des Kindes, des Jugendlichen, der Familie, der Adressat*innengruppe, des Quartiers kann eine echte multiprofessionelle Zusammenarbeit entstehen. Räumliche Nähe ist dafür vorteilhaft, aber nicht ausschlaggebend. Gemeinsame Fortbildungen, breit getragene Fallkonferenzen, gemeinsame pädagogische Tage und vieles mehr können dazu beitragen, dass das Nebeneinander zum Miteinander wird. Der Sinn multiprofessioneller Zusammenarbeit liegt keineswegs in ihr selbst. Vielmehr ist sie Mittel zum Zweck eines wertschätzenden und zielführenden Arbeitsbündnisses mit Eltern und Familien sowie einer konzeptionell gut abgestimmten, passgenauen Unterstützung von Kindern und Jugendlichen.

In einer weitgefassten Perspektive kann diese multiprofessionelle Zusammenarbeit dann zu sogenannten Produktionsnetzwerken führen, also zur Gestaltung von Leistungen aus einer Hand – ungeachtet der Vielzahl beteiligter Leistungsträger, Einrichtungen und Fachkräfte unterschiedlichster Profession.

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