Vor fünf Jahren kam Michael Hotopps erstes Kind zur Welt. Glückselig nach der Geburt, fühlte er sich gleichzeitig von vielen Dingen überwältigt. „Am Anfang ist man vollkommen überfordert vom Elternsein und möchte es quasi in die Welt hinausschreien, weiß aber nicht, wohin. Man lebt in der ständigen Angst, irgendwas falsch zu machen oder zu vergessen.“
Er sei von der neuen Situation vollkommen überfordert gewesen. „Man hat nicht nur ein schreiendes und ständig hungriges Kind zu Hause. Man muss auch noch ganz viele Behördengänge erledigen.“ Ohne genau zu wissen, wie das ginge, mit der Kita-Anmeldung oder Spielgruppen. Was genau er beachten musste, sei ihm nicht klar gewesen. „Was muss man für Anträge stellen? Welche Fristen hat man überhaupt? Wer hilft bei Problemen? Wie funktioniert die Hebammensuche?“
Hotopp kritisiert, dass es keine zentrale Plattform gibt, die alle Informationen für frischgebackene Eltern bündelt. Eltern müssten sich durch verschiedene Plattformen suchen, um Spielplätze, Krankenhäuser, Baby- oder Geburtsvorbereitungskurse zu finden, aber auch, wo sie die Vaterschaft anerkennen lassen, bis wann sie Elterngeld beantragen oder bis wann und wo sie das Kind krankenversichern müssen. Dabei wüssten viele Eltern oft nicht, auf welche Ressourcen sie sich wirklich berufen können. „Ich lebe in Monheim und hier schickt zum Beispiel das Jugendamt regelmäßig die Erinnerungen an die U-Untersuchungen raus, sogar mit Datum und allen Informationen. Aber wenn man nicht gerade zum Kinderarzt geht, hat man das Heft halt nicht präsent, es liegt dann in der Schublade.“ Hotopp habe damals sämtliche Termine für seine Kinder aus dem Infoheft in einen Kalender übertragen. „Damit ich das weglegen und vergessen konnte. Das Eintragen in den Kalender hat aber für beide Kinder jeweils mindestens eine halbe Stunde gedauert.“
Das muss doch übersichtlicher gehen, dachte Hotopp. Nachdem er aus der aufregenden Anfangsphase herausgewachsen und inzwischen zweifacher Vater ist, denkt er weiter über eine Lösungsmöglichkeit nach. „Es braucht eine Entlastungshilfe, eine mobile Anlaufstelle, um in dieser stressigen Zeit den Überblick zu behalten – in die man unterwegs mal reingucken kann, wenn man gerade mit dem Kinderwagen unterwegs ist oder abends mal darin blättern kann.“ Nicht jeder sei bereit, Papier in die Hand zu nehmen, glaubt Hotopp, und das Handy habe man immer in der Tasche. Der Informatiker, Grafiker und Designer hat eine zündende Idee: eine Familien-App fürs Smartphone.
Bei der Arbeit an einem Elternbegleitbuch für die Willkommensbesuche stellte Hotopp Uwe Sandvoss vom Netzwerk für Familien (NeFF) in Dormagen seine Idee vor. Der ist begeistert und gibt die Entwicklung der App in Auftrag. Dormagen gehört zu den ersten Kommunen, die den Aufbau von Kommunalen Präventionsketten in NRW begonnen habe und in der heute unter dem Motto "kinderstark - NRW schafft Chancen“ alle NRW-Kommunen gemeinsam daran arbeiten. Die Kommune Neuss ist seit 2017 dabei und startete mit dem Aufbau einer kommunalen Präventionskette in den Gemeinden Gnadental und Weckhoven. Die kommunalen Spitzen einigten sich auf diese strategischen Ziele: Familien haben kurze Wege zu Unterstützungssystemen, die Infrastruktur in den Quartieren ist an die Bedarfe der Bewohner angepasst, Eltern und Familien werden in ihrer Erziehungskompetenz gestärkt und Zugang zu Bildung ist unabhängig von der Herkunft möglich. Bei zwei Auftaktveranstaltungen mit den Fachkräften aus den Quartieren, wurde der Bedarf nach einer Übersicht von allen Institutionen und Angeboten in Gnadental und Weckhoven genannt, damit Familien wissen, wo sie Unterstützung bekommen und die Angebote überhaupt genutzt werden. Für eine solche Übersicht sei eine Broschüre schwer aktuell zu halten, sagt Christina Kloster, Koordinatorin der kommunalen Präventionskette in Neuss. Auch sie denkt über eine mobile Plattform nach, die zur Bekanntmachung von Angeboten und Veranstaltungen dienen, und Module, wie eine Karte oder Checkliste zu den frühen Hilfen enthalten soll.
Bei den Lernnetzwerktreffen und Themenclustern, in denen sich die teilnehmenden Kommunen aus dem Modellvorhaben „Kinderstark“ austauschen, erfuhr Christina Kloster über Uwe Sandvoss, dem kommunalen Koordinator in Dormagen, von Michael Hotopps Arbeit an der Dormagener Familien-App. Kloster ist begeistert.
Im Jahr 2018 stellte das Land Nordrhein-Westfalen zusätzliche Fördermittel für bestimmte Maßnahmen zur Umsetzung der kommunalen Präventionsketten zur Verfügung. Mit diesen Mitteln beauftragte Christina Kloster Michael Hotopp, um auch für Neusser Eltern eine App zu entwickeln. „Wir haben dann gemeinsam an der Idee gearbeitet, wie man die Checkliste, die bis dahin als Printversion vorhanden war, in einer App darstellen kann.“ Die App, so Klosters Wunsch, soll Eltern schnelle Antworten auf brennende Sorgen und Alltagsfragen liefern, Spielplätze in der Nähe zeigen sowie die Standorte und Kontaktdaten von Beratungsangeboten, Elterncafés, Grund- oder weiterführenden Schulen und an die wichtigsten Untersuchungen erinnern.
Für beide Apps, in Dormagen und Neuss, erstellte der Programmierer eine einheitliche Struktur mit drei Hauptmodulen: Eine Karte, eine Checkliste und einen Veranstaltungskalender. Die App-Module können dann mit kommunenspezifischen Inhalten verknüpft werden. Für die Checkliste können Eltern eins oder mehrere Kinder mit einem tatsächlichen oder errechneten Geburtsdatum eintragen. Die App zeigt dann an, wann welche Untersuchungen oder Schutzimpfungen dran sind, aber auch wann Elterngeld beantragt werden muss oder wann der Mutterschutz anfängt.
Über eine Abhak-Funktion sehen die Nutzer, was schon erledigt ist, oder werden daran erinnert, welche Termine noch anstehen.
Von der Karnevalsgruppe bis zum Schwimmkurs können Eltern im Veranstaltungsbereich nach relevanten Angeboten für ihre Kinder suchen. Wie umfassend die angezeigte Auswahl ist, hängt von der Bereitschaft der Veranstalter ab, Informationen freizugeben und Kurse selbst einzutragen. Das Jugendamt gibt die Einträge frei. Neben Veranstaltungen für Kinder, enthält der Bereich Bewerbungstrainings für Jugendliche, oder Elternkurse.
In der Sonderrubrik Lieblinks in der Neusser App versammeln nützliche Links von der Homepage der Frühen Hilfen, über den Kitanavigator bis zur Berufsberatung für Jugendliche und junge Erwachsene. Unter der Rubrik „Wenn es schnell gehen muss“ findet sich eine Liste der wichtigsten Ansprechpartner*innen im Jugendamt: zum Beispiel für Adoptionen, Beistand, Beratung oder Frühe Hilfen.
Die Daten der Eltern seien sicher, sagt Hotopp, denn sie würden auf keinen Server geladen. „Die persönlichen Daten werden wirklich rein auf dem Smartphone gesichert. Das heißt, es gibt dort eine ganz kleine lokale Datenbank.“ Wer nicht das echte Geburtsdatum seines Kindes angeben wolle, könne dies auch ein paar Tage daneben datieren.
Die Apps, die Hotopp für Dormagen und Neuss entwickelt, seien eigenständig, aber beide Städte haben voneinander gelernt. „Die Idee aus der Checkliste stamme eigentlich aus Neuss, sagt Hotopp, der Ratgeber, das Elternbegleitbuch, aus Dormagen. Die Idee zum Veranstaltungskalender und der Karte sei in Neuss entstanden, sagt Christina Kloster. „Und so haben beide Städte sich quasi gegenseitig gutgetan.“, sagt Hotopp.
Auch andere Kommunen hätten inzwischen Interesse an der App bekundet. „Die App hilft dabei Eltern und Fachkräfte besser zu vernetzen und die Angebote in der Kommune zu präsentieren. Das Smartphone ist heute die Hauptinformationsquelle“, sagt Uwe Sandvoss aus Dormagen.
Für jede Kommune, die an einer Familien-App interessiert ist, will Hotopp etwas Eigenständiges schaffen. „Natürlich kann ich nicht jedes Mal die Checkliste neu erfinden. Das ist ein bewährtes Konzept und das wird zentral entwickelt und verwendet. Aber welche Punkte drin sind und wie sie ergänzt werden, das haben die Städte komplett selbst in der Hand.“ Auch die Pflege der Inhalte liegt bei den Kommunen. In Hotopps Vorstellung präsentiert er mit Erscheinen der App eine Basis-Version, die durch das Feedback sukzessive weiterentwickelt wird. „Dass es ein lebendiges Projekt wird, von Eltern für Eltern, unter der Schirmherrschaft der Stadt und des Jugendamtes. Wir hoffen ja, möglichst viele Leute auch zum Beispiel für diesen Veranstaltungskalender gewinnen zu können.“ Christina Koster ist auf einen großen Kooperationswillen der beteiligten Akteure gestoßen, die ihre Angebote gern in der App teilen möchten. Andere Veranstalter, berichtet Michael Hotopp, würden sich aktuell noch quer stellen und Termine nur auf den eigenen Plattformen veröffentlichen. Er hofft, dass diese Verwaltungshürden abgebaut werden können und die Veranstalter gemeinsam vom Kind her denken.
Im Sommer gingen beide Apps an den Start gehen. Hotopp glaubt an ihren Erfolg. „In der App ist auch die Masernschutzimpfung integriert, die jetzt obligatorisch geworden ist. Und die Sorge, nichts zu vergessen, wird durch die Checkliste genommen. Ich hinterlege einfach das Geburtsdatum und die App macht den Rest für mich und erinnert mich daran.“ Eltern seien dadurch viel eher dazu geneigt, die Untersuchungen auch ohne zusätzliche Aufforderung wahrzunehmen.
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