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Positionen aus NRW

Familienzentren an Grundschulen: "Es geht darum, Schule und Eltern zusammenzubringen, im Sinne der Kinder."

Interview mit Dr. Markus Warnke, Geschäftsführer der Wübben Stiftung

Herr Dr. Warnke, die Wübben Stiftung steht mit ihrer Arbeit für mehr Bildungsgerechtigkeit von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen und setzt in diesem Zusammenhang auf das Modell der Familienzentren an Grundschulen. Was ist darunter zu verstehen?

Warnke: Der Stiftung geht es darum, besonders vielen Kindern und Jugendlichen aus schwierigen familiären Situationen zu helfen und sie zu unterstützen. Deswegen sind wir in Schulen aktiv, die in sozialen Brennpunkten liegen. Es geht also um bildungsabhängige Berufs- und Bildungsbiographien. Wir wollen da ansetzen, wo das Elternhaus keine Unterstützung, sondern ein Hindernis oder eine Barriere darstellt. Deswegen haben wir z.B. mit der Stadt Gelsenkirchen das Modell der Familienzentren vom Kindergarten auf die Grundschule übertragen. Dabei gibt es deutliche Unterschiede, aber das Ziel ist, über die Schule Eltern zu erreichen und gleichzeitig Schulen für die Zusammenarbeit mit Eltern zu sensibilisieren – oder man könnte auch sagen: zu öffnen. Damit beide gemeinsam in einer Verantwortungsgemeinschaft etwas für die Kinder und Jugendlichen bewirken können. Es geht darum, Schule und Eltern zusammenzubringen, im Sinne der Kinder.

Für den Aufbau einer lückenlosen Präventionskette sind Ankerpunkte in verschiedenen Altersabschnitten von großer Bedeutung. Dabei ist die Gestaltung eines möglichst niedrigschwelligen Zugangs erfolgsentscheidend -  insbesondere, wenn man den Kontakt zu den „schwer erreichbaren“ Familien sucht. Familienzentren an Grundschulen werden von Ihnen als solch niedrigschwellige Ankerpunkte gehandelt. Was kann dieses Modell bieten?

Warnke: Es gibt ja im Prinzip schon ein Modell, an dem wir uns orientiert haben. Das sind die Familienzentren in den Kindergärten, wo man versucht, über niedrigschwellige Angebote schlicht und ergreifend Eltern zu erreichen. Die Angebote werden in den Kindergarten geholt. Diese Niedrigschwelligkeit und der Versuch, proaktiv auf Eltern zuzugehen war der Pate des Gedankens, das auch in der Grundschule zu versuchen. Unser Anliegen als Stiftung war es, das nicht nur eins zu eins zu adaptieren, sondern zu schauen, welche Ressourcen sind in und um Schulen schon vorhanden. Und dann auch tatsächlich die Schulen zu öffnen, d.h. insbesondere die Lehrerinnen und Lehrer zu sensibilisieren mit allen Eltern umzugehen. Sie sagten gerade: besonders schwer erreichbare Eltern. Ich bin der Auffassung, dass sie alle Eltern erreichen können. Es geht um die Frage der Ansprache. Da können Yogakurse oder auch Schminkkurse und Kochangebote eine sinnvolle Maßnahme sein. Wo viele bildungsbeflissene Eltern vielleicht sagen: Warum macht man das? Aber darum geht es: Genau zu überlegen, wie kann ich an alle Eltern rankommen.

Deswegen ist auch „anders erreichbar“ der bessere Begriff, nicht „schwer erreichbar“. Schwer ist eine Frage der Perspektive. Wir als Stiftung sind ja in verschiedenen schulischen Kontexten unterwegs. Ich kann mich daran erinnern, dass ich zwei, drei Mal in Runden mit Schulleitungen gesessen habe, in denen mir gesagt wurde, man habe alles versucht. Zu manchen Familien bekämen die Schulen einfach keinen Kontakt. Die Eltern wollten das nicht. Nichtsdestotrotz gibt es Schulen, mit den gleichen Herausforderungen, wo es funktioniert. Ich glaube, dass es damit etwas zu tun hat, sich auf die unterschiedlichen Sprachebenen einzulassen. Man muss sich darauf einlassen, was die Eltern mitbringen. In der Regel erreichen sie die Eltern nicht, indem sie irgendwelche Rundmails oder Rundbriefe schreiben. Dazu muss man wissen, dass die zum Teil gar nicht gelesen werden können. Selbst wenn der Wille da ist. Aber überall, wo man proaktiv auf die Eltern zugeht und ihnen sagt, dass es wichtig ist, dass sie dabei sind, klappt das. Wir haben in Mönchengladbach eine Projektpartnerschaft bei der es auch darum geht, den Gedanken der Elternarbeit in Grundschulen zu holen. Es ist für uns auch wichtig zu schauen, ob die Projekte die Zielgruppe überhaupt erreichen. Wir haben da als Wirkindikatoren die Teilnahme an Elternabenden und Elternsprechtagen. Bei den Elternsprechtagen ist es durch die gezielte Ansprache gelungen, die Teilnahme von 50% auf über 80% zu steigern. Sie sehen, es geht. Ich bin da fest von überzeugt.

Ich bringe noch ein Beispiel: Wir haben uns vor kurzem eine Grundschule in Gelsenkirchen angeschaut, wo bis vor ein paar Wochen die Väter die Konflikte der Söhne auf dem Pausenhof ausgetragen haben. Die haben sich da geprügelt. Jetzt kann man sagen, die sind nicht erreichbar. Ich würde sagen, die sind massiv erreichbar, weil sie da vor der Tür stehen und aufpassen, dass ihren Kindern nichts passiert. Was hat man da gemacht? Mit Hilfe des Familienzentrums hat man angefangen, eine gemeinsame Koch-AG, in diesem Fall der Mütter, zu initiieren, um das Kennenlernen unter den Eltern zu ermöglichen. Und das hatte schon die ersten positiven Effekte. Ich glaube, dass die Eltern erreichbar sind. Wenn sie aus anderen Kulturkreisen kommen, wissen sie nicht, wie hier in Deutschland Schule organisiert ist und welche Rolle sie haben. Ich glaube, Schule muss sich darauf einstellen. Es geht kein Weg daran vorbei. Für die Bildungsbiographie ist das Elternhaus entscheidend. Es geht nur mit den Eltern.

Bei den Familienzentren an Grundschulen treffen verschiedene Bereiche aufeinander, die es gewohnt sind, normalerweise unabhängig voneinander zu agieren. Bei der Familiengrundschule wären das die Säulen Schule, offene Ganztagsschule und die Sozialarbeit. Wie wichtig ist die Verzahnung dieser Bereiche und wie kann man diese sicherstellen bzw. befördern?

Warnke: Sie beschreiben ein Grundproblem, was auch im Bereich des offenen Ganztags immer wieder zu Tage tritt. Uns geht es nicht nur um die Erreichbarkeit der Eltern und die Bildungsbiographien der Kinder. Sondern uns geht es natürlich auch um diese systemischen Ansätze. Zu versuchen, alle von Ihnen genannten Akteure besser miteinander ins Spiel zu bringen und zu verzahnen. Das ist natürlich ein Anliegen. Ein gutes Familienzentrum an einer Grundschule funktioniert nur dann, wenn alle Systemakteure auch gut zusammenarbeiten.

Welche Systemakteure haben Sie im Blick? Bis wohin reicht im besten Fall das „System Familiengrundschule“ aus ihrer Sicht?

Warnke: Es gibt z.B. noch Angebote der Familienbildung, die im Sozialraum sind. Sie haben psychologische Dienste, die dabei sind. Sie haben den ganzen Bereich der Hilfen zur Erziehung, die gerade für die Zielgruppe eine besondere Relevanz haben. In unserem Projekt kommen hinzu: Kooperationen mit weiteren Schulen und vielleicht mit Akteuren im Sozialraum, die man auch berücksichtigen könnte, wie z.B. den Schrebergarten um die Ecke. Also wir gehen das Ganze sehr komplex an. Und wenn ich „wir“ sage, meine ich immer vorrangig die Koordinatoren dieses Projektes in der Stadt Gelsenkirchen. Und da wo wir können, unterstützen wir als Stiftung das Ganze.

Sie sprachen von den Familienzentren, die sich mit Kitas einen Standort teilen und an vielen Standorten funktionierende Ankerpunkte sind. Sie werden als Vorbilder der Familiengrundschulen gehandelt. Aber dieses Erfolgsmodell der Familienzentren an Kitas ist nicht eins zu eins auf die Schule zu übertragen, weil da ein anderes soziales Gefüge herrscht.

Warnke: So ist es. Allerdings muss ich an dieser Stelle eine Sache deutlich benennen. Wenn ich von Schule spreche, meine ich nicht nur das, was im Unterricht mit den Lehrerinnen und Lehrern stattfindet, sondern das ganze Gefüge. Das funktioniert aber nur, wenn man eine Bereitschaft hat, insbesondere von Schulleitungen, sowas auch mitzutragen und als Schulentwicklungsprozess zu sehen. Und das ist aus meiner Sicht der entscheidende Unterschied zum Kindergarten.

Ein weiterer Unterschied ist das Ungleichgewicht im Verhältnis der Familie zur Schule, welches dadurch entsteht, dass die Schule entscheidet, wie es für das Kind weitergeht. Das heißt, es gibt dort ein Abhängigkeitsverhältnis, was im Wege stehen könnte, wenn man versucht, ein Vertrauensverhältnis herzustellen. Wie schafft man es trotzdem, ein Klima des Vertrauens zwischen den Familien und der Schule zu ermöglichen?

Warnke: Alles, was ich schildere, sind erste Eindrücke aus unserem Projekt. Es gibt eine begleitende Evaluation von Frau Prof. Stöbe-Blossey. Die Zufriedenheit der Eltern mit den Familienzentren an Grundschulen ist sehr hoch. Das vielleicht mal vorweg. Aber so selbstverständlich die Kooperationsbereitschaft und auch der Gedanke, dass man in Kindergärten Elternarbeit leistet, ist, verändert sich diese Einstellung in der Grundschule und erst recht bei den weiterführenden Schulen. Ich bin ganz sicher, dass das Verhältnis von Lehrerinnen und Lehrern zu z.B. Schulsozialarbeitern ein komplett anderes ist, als z.B. von Erzieherinnen zu den Angeboten der Familienbildung und der Familienhilfe in den Kindergärten. Es gibt Berührungsängste oder -hemmnisse. An Schulen merken sie das, wenn sie fragen, welcher Schulsozialarbeiter denn mit im Lehrerzimmer sitzt. Ich habe immer gedacht, das sei total normal, dass alle in einem Raum sitzen. Das ist nicht normal. Daran können Sie ja schon sehen, dass da verschiedene Systeme – wir sprachen da schon von - aufeinanderprallen. Dann kommen noch die Eltern dazu, die eine andere Erwartungshaltung haben. Sie wollen das Beste für ihr Kind.

Sie haben für ihr Engagement als Stiftung den Anknüpfungspunkt Schule gewählt. Warum ist gerade das Ihr Ankerpunkt? Könnten Sie sich noch andere Ankerpunkte neben der Schule in diesem Lebensabschnitt oder diesem Lebensalter vorstellen?

Warnke: In der Schule sind sie alle. Wir als Stiftung sind da sehr rational rangegangen. Für uns ist es wichtig, ein Programm zu haben, in dem man Eltern beteiligt. Rein theoretisch kann man natürlich noch über andere Wege nachdenken. Das geht jetzt aber über das Thema Familienzentren an der Grundschule hinaus. Meine Grundfrage wäre immer: Wo treffe ich Eltern an? Konkret: Warum gibt es keine angepassten Angebote für Familienbildung samstagmorgens auf dem Parkplatz bei Aldi?

Schule ist ja nicht gleich Schule. Abhängig vom Sozialraum stellen sich ganz unterschiedliche Herausforderungen. Welche Schulen sind insbesondere als Standort einer Familiengrundschule geeignet? 

Warnke: Der Wübben Stiftung geht es darum, Kindern zu helfen, die aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen kommen. Für uns ist vollkommen klar, dass wir in Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf gehen, also in sogenannte Brennpunkte. Ganz grundsätzlich bin ich schon der Auffassung, dass die Angebote eines Familienzentrums eigentlich in allen Schulen vorhanden sein müssten, unabhängig vom sozialen Gefüge. Aber auch aus Sicht der Stiftung ist klar, dass es hier einen besonderen Bedarf gibt und deswegen ist unser Engagement auf diese Stadtteile und Schulen konzentriert. 

Ich würde jetzt gerne noch mal stärker auf die Inhalte, die von Familienzentren an Grundschule vermittelt werden können und sollen, eingehen. Was haben Sie da für eine Vorstellung der Funktion einer Familiengrundschule? Gibt es da Schwerpunkte, die Sie benennen können? Ist da z.B. eine vorrangige Fokussierung auf die Bildungsförderung? 

Warnke: Die erste Überlegung, die wir in den Projekten, die wir fördern, immer mit dem Projektverantwortlichen anstellen, ist: Wie erreichen wir die Eltern? In Gelsenkirchen haben wir eine Kaskade erstellt, angefangen von besonders niedrigschwelligen zu anspruchsvolleren Angeboten. Als Stiftung haben wir einen zentralen inhaltlichen Schwerpunkt eingebracht, nämlich den Übergang von der Grund- auf die weiterführenden Schulen. Dieser ist nicht nur in der Bildungsbiografie besonders sensibel. Er ist auch das geeignete Thema für Eltern, die sich alle damit auseinandersetzen. 

Lassen Sie uns auf die guten Beispiele schauen. Was wurde in den Schulen, die im Zusammenspiel mit einem Familienzentrum gut funktionieren, konzeptionell richtig gemacht? 

Warnke: Für mich ist die Leitung der Schule Dreh- und Angelpunkt. Richtig gut läuft es immer dann, wenn die Schulleitung das Projekt will und ihre Rolle nicht nur darin sieht, den Lehrerinnen und Lehrern dabei zu helfen, ihren Unterricht möglichst stressfrei zu machen. Sondern dass sie versteht, dass sie ihre Schule mit so einem Projekt voranbringen kann. Das ist für mich ausschlaggebend. Und eine entscheidende Rolle spielt in diesem Kontext für mich auch der Schulträger oder die Stadt. Weil sie weiß, es gibt viele Ressourcen im Umfeld der Schulen, seien es die Angebote der Jugendhilfe, der Hilfen zur Erziehung, der Angebote im Sozialraum usw.. Und es läuft allemal besser, wenn alle diese Ressourcen gebündelt aufeinander abgestimmt und direkt in Schulen angesiedelt und angedockt sind. Es braucht also den Willen bei der Schulleitung und den Willen beim Schulträger, dass man sich aktiv mit einbringt.

Ich frage jetzt auch noch mal anders herum, weil wir oft erleben, dass nicht nur die guten Erfahrungen wichtig sind. Besonders lehrreich sind oft auch die Geschichten des Scheiterns - wenn jemand so mutig ist, diese zu erzählen. Was wäre denn aus Ihrer Sicht ein ganz typischer Stolperstein, den man versuchen sollte zu vermeiden? 

Warnke: Wir fangen bei unseren Projekten immer an, mit der Stadt zu diskutieren, bevor wir auf die Schulen zugehen. Für uns ist es zwingend, dass die Stadt so etwas machen möchte, weil wir eben die Stadt/den Schulträger als entscheidenden Akteur im ganzen Geflecht sehen. Dann geht es darum, Schulen zu identifizieren. Und schließlich muss man schauen, ob das Projekt getragen ist vom Willen, so etwas wirklich auch positiv zu nutzen. Es funktioniert dann nicht, wenn man sich einfach nur eine zusätzliche Ressource erhofft, insbesondere eine solche, die dabei hilft, diese nervigen Eltern loszuwerden. Mit dieser Voreinstellung klappt das nicht. Das ist jedenfalls nicht das, was wir als Stiftung wollen. Dazu führen wir im Vorfeld sehr viele Gespräche. Es muss Einfluss haben auf die Schule, sonst macht das gar keinen Sinn.

Welche Aufgaben kann oder möchte denn die Wübben Stiftung bei dem Aufbau von Familiengrundschulen übernehmen? Welches Angebot machen Sie an Land und Kommunen? 

Warnke: Wir haben jetzt ein paar Modellkommunen und -schulen unterstützt und erste Erfahrungen gemacht. Das Angebot, das wir dem Land machen, ist, dass wir gerne gemeinsam auf diese ersten Erfahrungen schauen wollen und uns vorstellen können, zusammen weitere Erfahrungen zu machen und auf dieser Grundlage zu überlegen, ob so etwas tatsächlich auch ein Angebot für die Fläche sein kann. Für mich ist es ganz wichtig, dass es immer um eine Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen den verschiedenen Bereichen und Ebenen der öffentlichen Hand geht. Und ich meine damit eben nicht nur, dass ein Land oder speziell ein Ministerium da eine Aufgabe hat. Es ist vollkommen klar, das Schulministerium muss genauso beteiligt sein wie das Kinder- und Jugendministerium. Vielleicht sind noch andere Ressorts zu beteiligen. Ich habe schon die Bedeutung des Schulträgers genannt. Das ist ganz, ganz wichtig. Es geht nicht darum, im Prinzip jetzt schon eine Art von Aufgaben- oder Forderungskatalog zu definieren. Sondern wir als Stiftung würden gerne gemeinsam mit den genannten Akteuren eine Diskussionsreihe organisieren, um nachher selber ganz interessiert zu schauen, was denn da rauskommen könnte.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Gespräch führte Dr. Ursula Kansy.

Foto: ISA / Martin Scherag.
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